Gehört eine Todesanzeige in die sozialen Medien?
Die Zeit vor WhatsApp, Facebook und Co
Es klingelte an der Haustüre. Mutter zog die Schürze aus, die sie in der Küche trug und stieg die knarrende, auf Hochglanz polierte Holtreppe hinab. Sie öffnete die Türe. Draussen stand Frau Tüscher, eine ältere Frau aus dem Dorf. Wenn sie vor der Türe stand, wusste Mutter sofort, dass im Dorf jemand gestorben sein muss. Frau Tüscher verkündete den Tod eines Dorfbewohners und schilderte auf Nachfrage mehr oder weniger ausführlich, wie und woran er oder sie gestorben sei. Mutter gab Frau Tüscher ein oder zwei Franken, bedankte und verabschiedete sich von ihr. Je nachdem, wer gestorben war, ging sie danach zum Wandtelefon, stellte an der Wählscheibe die Nummer einer Bekannten im Nachbardorf ein, um die Nachricht weiterzusagen. So war das in Kallnach, einem Dorf im Berner Seeland in den 1970er Jahren.
Heute mit Social Media
50 Jahre später, teilen wir Todesnachrichten per WhatsApp oder in den Sozialen Medien. Als mein Vater starb, stellte ich ein Bild der grossen Uhr, die er im Zimmer hatte in den WhatsApp Status. „Die Uhr ist abgelaufen, mein Vater ist heute Nachmittag gestorben.“
Wie gehen wir mit dem Tod um in den Sozialen Medien? Ist es nicht ein zu sensibles und intimes Thema, um gelikt und kommentiert zu werden?
Das wollte ich Monica Lonoce und Chantale Desbiolles wissen.
Monica Lonoce – Expertin für Trauerbegleitung
Als Kind der 1960er Jahren fühle ich mich immer noch fremd mit dem Thema Tod in den Sozialen Medien. Monica, du hast viel Wissen und Erfahrung mit Tod und Trauer. Sind dies wirklich Themen für Social Media?
Monica Lonoce: Social Media ist inzwischen ein fester Bestandteil unseres Alltagslebens und – wie alles – ist es immer die eigene Verantwortung, wie ich etwas nutze oder eben nicht. Dass auch der Bereich Tod und Gedenken auf Social Media Einzug gehalten hat, ist – aus meiner Sicht – nur natürlich.
Würdest du persönlich eine Todesanzeige per WhatsApp verschicken?
Wohl kaum, dafür gehöre ich noch zu der Generation, die Unterschiede macht in der Kommunikationsart. Eine Todesanzeige hat – so empfinde ich es – eine echte Karte oder einen Brief verdient. Doch habe ich auf LinkedIn mehrmals beobachten und mitwirken können, wie achtsam geschriebene Todesanzeigen über das LinkedIn Profil des/der Verstorbenen oder auch im Rahmen der eigenen Community nicht nur eine Welle von echtem Mitgefühl, echter Betroffenheit, sondern viel gute Resonanz und die Möglichkeit von Teilhabe erzeugt hat.
Du hast selbst auf LinkedIn einen sehr persönlichen Beitrag zum Tod deiner Töchter geschrieben.
Monica Lonoce: Damit erreichte ich viele Herzen. Ich habe grosse, echte und einfühlsame Resonanz erhalten, auch wenn das für mich bedeutete, allen eine angemessene Antwort zu schreiben. Das Gemeinschaftsgefühl hat mich berührt. Allerdings habe ich diese persönliche Lebenserfahrung in den Kontext meiner heutigen Tätigkeit mit der Schule für Trauerbegleitung gestellt. Nie hätte ich diesen Beitrag einfach so z.B. auf Facebook oder Instagram gepostet.
Woran sollte man denken, bevor man eine Todesanzeige in Social Media postet?
Monica Lonoce: Das Ziel einer Todesanzeige ist es, sein Umfeld zu informieren über einen persönlichen Verlust. Wenn ich dies per Brief-Post an ausgewählte Adressen tue, weiss ich genau, wer diese Anzeige / Information bekommt. Ich befinde mich also in einem (halb-)geschützten Raum.
„Zu bedenken gilt es, dass Social Media ganz sicher kein geschützter Raum ist“.
Monica Lonoce
Jede Person, die meinen Beitrag oder eine Todesanzeige sieht, kann darauf reagieren und interagieren. Ist es mein Ziel ist, dass die „ganze Welt“ von meinem Verlust erfahren muss/soll? Oder nur jene, die ich wähle? Ich denke, es gibt kein Richtig und Falsch und es wird noch viel Veränderungen geben im Zuge von KI und allumfassender Digitalisierung. Mehr, als wir uns zurzeit überhaupt vorstellen können. (Siehe Trailer von ElternalYou)
Monica Lonoce ist Gründerin und Inhaberin der Schule für Trauerbegleitung. Sie entwickelte das Gefühle.Leben.Lernen ® Lebens- und Trauerbegleitmodell. Ihre Erfahrung und ihr Wissen gibt sie im Zertifikatslehrgang Trauerbegleitung weiter. Dabei ist ihre Empathie für Menschen in Ausnahmesituationen und ein geschicktes, systematisches Vorgehen in der Trauerbegleitung spürbar.
Monica Lonoce | Schule für Trauerbegleitung | Fortbildung
Chantal Desbiolles – Coach und Expertin für Kommunikation
Chantal, du hast die Todesanzeige nach dem Tod deines Vaters auf Instagram veröffentlicht. Für mich war es auf Instagram die erste Todesanzeige, die ich je gesehen habe. Warum hast du dich entschieden, sie auf Social Media zu teilen?
Chantal Desbiolles: Ich habe die Todesanzeige, die ich für NZZ und Tagblatt der Stadt Zürich entworfen habe, auf Social Media – Facebook und Insta – geteilt. Der postalische Aufwand schien mir zu gross; wir haben ohnehin gegen 100 Zirkulare verschickt. Ich habe nicht gezögert, die Todesanzeige so zu veröffentlichen.
Konntest du die Reaktionen abschätzen oder hattest du Bedenken?
Also ich hatte keine Bedenken. Weil ich finde, dass wir Social Media entfaken sollten, also realitätsnäher gestalten. Ich habe als Reaktion auf die Veröffentlichung wenig Rückmeldungen bekommen im Verhältnis zu anderen Posts. Alle Rückmeldungen, die ich erhalten habe, waren neutral oder positiv zu werten, also im Sinne von herzliches Beileid – Meine Gedanken sind bei dir – Toi, toi, toi, viel Kraft. Kurze, vergleichsweise unpersönliche Reaktionen. Das hat sicher damit zu tun, dass meine Freunde, mein engster Kreis mit mir persönlich im Austausch ist.
Waren Reaktionen auf WhatsApp anders?
Ich habe mehr Rückmeldungen zum WhatsApp-Status erhalten. Ich habe in den Wochen der Begleitung meines Vaters in den Tod dort immer mal wieder ein Update gegeben. Zum Thema Stille beispielsweise habe ich da etwas geschrieben. Ich habe auch auf LinkedIn gepostet. Einmal. Und da waren die Rückmeldungen sehr, sehr wertschätzend. Je nach Plattform fallen die Reaktionen unterschiedlich aus.
Würdest du es wieder gleich machen?
Chantal: Ja. Ich verstehe Social Media als öffentliches Anschlagbrett für alle möglichen Informationen. Ich stelle fest, dass einige Leute über die Beileidsbekundung hinaus nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Das ist noch immer ein Thema, weil wir uns in unserer Gesellschaft vom Tod entfernt haben. Aber das ist ein anderes Thema.
Chantal Desbiolles ist Journalistin, Coach und Expertin für Kommunikation. Sie begleitet Menschen in Veränderungssituationen www.desbiolles.ch
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